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Literaturhinweise
Rezension Kowalczuk...
Rezension Reichel
Rezension Uhlemann

Text: Dana Schieck

ZUR PERSON

Der Verfasser des Aufsatzes “Jugoslawische Verhältnisse”? – Die “Brigaden der sozialistischen Arbeit” und die “Syndikalismus”-Affäre (1959-1962)”, Thomas Reichel, wurde 1967 geboren. Er ist von Beruf Historiker. Thomas Reichel ist Doktorand am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. (ZZF), das sich vor allem mit der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte der SBZ und der DDR befaßt. Innerhalb dieser Thematik hat sich Thomas Reichel auf das Gebiet der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften spezialisiert. Während des Erscheinens seines im folgenden zu untersuchenden Aufsatzes befand sich ein weiterer in Druck: “Konfliktprävention: die Episode der “Arbeiterkomitees” 1956/ 58, in: Peter Hübner/ Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter in der SBZ – DDR”, Essen 1999.

 

ZUR EINORDNUNG DES AUFSATZES

Herrschaft und Eigensinn in der Diktatur Böhlau VorderseiteDer Aufsatz ist im Rahmen der vom Zentrum für Zeithistorische Forschung e.V. (ZZF) herausgebrachten “Zeithistorischen Studien” in der Reihe “Herrschaftsstrukturen und Erfahrungsdimension der DDR-Geschichte” in Band 1: “Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur: Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR” (S. 45-73) im Jahr 1999 im Böhlau-Verlag erschienen.

ISBN: 978-3-412-13598-0

Preis: 39,90 EUR

 

 

Thomas Reichel verweist gleich zu Anfang in einer Fußnote auf sein seit 1998 laufendes Dissertationsprojekt über “die Brigaden der sozialistischen Arbeit in der Industrie der DDR (1959-1989)”. Diesbezüglich stuft er seinen Aufsatz als ein “(Zwischen-)Ergebnis” ein.

 

INHALT DES AUFSATZES

Der Aufsatz gliedert sich in 7 Kapitel.

Auftakt seiner Ausführungen im 1. Kapitel “Einleitung: Kontext Ende der fünfziger Jahre” ist eine Parole Walter Ulbrichts aus dem Jahre 1958, in der das Ziel formuliert wird, die “Ãœberlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat”1 zu erreichen. Ende der fünfziger Jahre befand sich die DDR in einer Phase der Konsolidierung. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität rückte nun ins Blickfeld, zumal die Löhne stetig angehoben worden waren. Mittels der von Ulbricht erdachten “10 Gebote der sozialistischen Moral”2 und Wettbewerbskampagnen wollte man die Arbeiterschaft motivieren, höhere Leistungen zu erbringen. Dabei geriet der FDGB als Befehlsempfänger der SED und Vertreter der Arbeiter in einen Interessenkonflikt. In diesem Zusammenhang startete im Jahr 1959 die Kampagne “Brigade der sozialistischen Arbeit”, in der sich die teilnehmenden Arbeiter dazu verpflichten mußten, “nicht mehr nur sozialistisch arbeiten, sondern auf eben diese Weise auch lernen und leben zu wollen.”3 Allerdings beteiligten sich zahlreiche Brigaden aus rein praktischen Gründen: Es stand eine bevorzugte Materialversorgung in Aussicht und darüber hinaus eine stärkere Einbindung in die betriebliche Leitung. Thomas Reichel gibt an, daß Ende 1959 “ca. 60.000 Brigaden mit rund 700.000 Mitgliedern erfaßt”4 waren.

Im 2. Kapitel “'Den Brigaden größere Rechte' – Forderungen von SED- und FDGB-Funktionären” kommt Reichel auf die Reformversuche in der 2. Hälfte der 1950er Jahre zu sprechen. Ziel der Reformversuche war eine “'stärkere Teilnahme der Werktätigen' am Prozeß der Planung und Leitung der Volkswirtschaft”5 In den Diskussionen um Verbesserungen der Produktivität taten sich unter anderem Erich Apel als Mitglied des ZK und Leiter der Wirtschaftskommission beim Politbüro der SED, Rudi Rubbel, Mitarbeiter des FDGB -Bundesvorstandes und der Arbeitsrechtler Roland Schmutzler mit Zeitungsartikeln hervor. Darin forderten sie beispielsweise für die Brigaden das Recht der eigenständigen Normbestimmung oder gewisse disziplinarische und personaltechnische Befugnisse.

Im 3. Kapitel “'Wir machen keine neuen Strukturveränderungen!' – Die SED-Führung blockt ab” beschreibt Reichel die Reaktion der SED. Walter Ulbricht vergleicht die Neuerungsideen mit einer “Art jugoslawischer 'Selbstverwaltung'”6 und kritisiert sie als syndikalistisch. Die Partei befürchtete eine Beschneidung ihrer zentralistischen Macht und forderte die Ideengeber Erich Apel, Rudi Rubbel und Roland Schmutzler auf, sich von ihren Äußerungen zu distanzieren. Brigaden, die den Gedanken der größeren Eigenverantwortung versuchten, in die Tat umzusetzen, wurden nicht angegriffen. Allerdings geriet wieder einmal der FDGB in die Kritik der SED.

Das 4. Kapitel trägt die Ãœberschrift “Die BdsA-Kampagne im Betriebsalltag”.

Bereits Anfang 1959 stellte der FDGB fest, daß zwar sozialistisch gearbeitet werde, aber darüber hinausreichende Initiativen der Brigaden sich “in Grenzen”7 hielten, zum Beispiel die “Bereitschaft, auch auf gesellschaftlich-politischem Gebiet das Wissen zu vervollkommnen”8 oder sozialistisch zu leben. In seinen Ausführungen nennt Reichel Beispiele aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg. Die Brigade “Glück auf” fiel negativ auf, da 3 Kollegen betrunken zur Arbeit erschienen waren. Die Jugendbrigade “Willy Becker” hingegen erhielt den Titel “Brigade der sozialistischen Arbeit”. Diese Brigade hatte im “Nationalen Aufbauwerk” (NAW) Erntehilfe geleistet und ein Zeltlager für ihre Patenklasse errichtet. Reichel stellt fest, daß dieses Engagement aber wahrscheinlich mehr aus persönlichem Interesse denn politischer Ãœberzeugung der Arbeiter geschah.

Die Teilnahme einer Brigade am sozialistischen Wettbewerb konnte eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen bewirken. Dies erzeugte Widerstand gegen die BdsA-Kampagne. Trotz der hohen Beteiligung von Brigaden am Wettbewerb wurden nur wenige von ihnen tatsächlich ausgezeichnet. Schließlich wurden auch die Prämien gekürzt. Mit der Zeit sank die Bereitschaft, sich zu engagieren. Unter dem Motto “sozialistisches Lernen”9 hatten die Arbeiter die Möglichkeit, sich neben dem Beruf weiterzubilden und in eine höhere Lohngruppe aufzusteigen. Allerdings stieß dieses Angebot auf wenig Interesse. Die Brigadebewegung barg auch negative soziale Entwicklungen: Teilweise wurden ältere Arbeiter und Frauen nicht in die Brigade aufgenommen, da man eine Hemmung der Produktionssteigerung befürchtete. Ebenfalls nachteilig war die Entwicklung, daß man sich in das Privatleben der Arbeiter einmischte.

Im 5. Kapitel “'Jugoslawische Verhältnisse' in den Betrieben?” benennt Reichel die vermutlich syndikalistischen Brigaden auf “ca. ein Dutzend”. Diese Brigaden, z.B. aus dem “Karl-Marx”-Werk Babelsberg, erwarben umfangreiche Befugnisse. Unter anderem entsendeten sie Vertreter, die an den wöchentlich stattfindenden Werkleitersitzungen teilnahmen. Der SED mißfiel das gesteigerte Mitspracherecht der Brigaden. Es richtete sich gegen ihren unbeschränkten “Lenkungs- und Kontrollanspruch”10.

Kapitel 6 “Die ersten ausgezeichneten 'Brigaden der sozialistischen Arbeit'” räumt zu Beginn ein, daß von einer Beleuchtung von Beispielen nicht auf die gesamte Wettbewerbsbewegung geschlossen werden kann. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die Brigaden, über welche ausführliche Berichte vorliegen, wahrscheinlich nicht die “Norm”11 widerspiegeln, sondern negativ aufgefallen sind. Reichel geht auf 2 Brigaden genauer ein:

In die Brigade “Patrice Lumumba” im Eisenhüttenkombinat Ost wurden “schwierige Charaktere” integriert, da man annahm, die Brigade sei in ihrer politischen und gesellschaftlichen Einstellung einwandfrei. Dennoch wollten 2 Mitglieder in den Westen flüchten. Ihr Vorhaben wurde vereitelt und ausführlich untersucht. Als Hauptgrund für den Fluchtversuch wurde die “Fluktuation innerhalb der Parteigruppe und unter den Brigademitgliedern”12 genannt. Für die “viele(n) Erscheinungen der politischen und moralischen Aufweichung”13 wurde seitens der BPKK die APO-Leitung verantwortlich gemacht.

Die 2. Brigade ist die Brigade “Willy Becker” aus dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg. Auch in dieser Brigade war die Bereitschaft, sich politisch “korrekt” zu verhalten, nur mäßig vorhanden. Ziel der APO-Leitung war deshalb, “daß alle Genossen 100%ig und mindestens 70% aller Brigademitglieder an den Parteischulungen teilnehmen.”14 Um gesellschaftliche Aktivität zu beweisen, wurden Jugendliche der Brigaden “überredet”, in die Armee einzutreten.

Im Anschluß an diese Ausführungen stellt Thomas Reichel ein Gedicht vor, daß den Widerspruch zwischen realem Alltag im Betrieb und den Bestrebungen der Partei aufzeigt.

Das 7. Kapitel “Fazit” faßt noch einmal die Erkenntnisse der vorangegangenen Kapitel zusammen.

 

Untersuchung des 4. Kapitels: “Die BdsA-Kampagne im Betriebsalltag”

Dieses Kapitel beleuchtet die Umsetzung der Brigade-Wettbewerbs in den Betrieben. Eine kurze Inhaltsangabe findet sich im vorangegangenen Abschnitt “Inhalt des Aufsatzes”.

Reichel eröffnet das Kapitel mit einer Feststellung des FDGB vom 13.1.1959, daß eine “zu starke Orientierung auf den ersten Teil (sozialistisch arbeiten)”15 vorliege, wenngleich “zur Beseitigung der Verlustzeiten und zur Steigerung der Arbeitsproduktivität”16 nur wenige Bemühungen zu verzeichnen seien. Auch auf politisch-gesellschaftlichem Gebiet wurde mangelnde Bereitschaft der Arbeiter kritisiert. Bezüglich der “Zehn Gebote” Walter Ulbrichts fehle es an “konkreten Verpflichtungen”17.

Diesem Untersuchungsergebnis schließen sich Einzelbetrachtungen einiger Brigaden des Stahl- und Walzwerks Brandenburg (SWB) an. In diesem Betrieb meldeten sich kurz nach dem Aufruf der Bitterfelder “Mamai”-Brigade die Jugendbrigade vom Siemens-Martin-Ofen und die Brigade “Glück auf”. Letztere entsprach allerdings nicht dem Ideal einer sozialistischen Brigade, so daß sie Gegenstand eines Artikels mit der Ãœberschrift “Sozialistisch zu leben ist das Schwierigste” wurde. Reichel schildert die Hintergründe: 3 Mitglieder der Brigade waren betrunken zur Arbeit erschienen. Dies hatte eine Produktionsminderung um 75 Prozent zur Folge. Der Brigadeleiter wollte die Angelegenheit diskret behandeln, wurde aber durch die Parteileitung daran gehindert. Sie wollte die Sache in einer Belegschaftsversammlung besprechen. Schließlich wurden gegen die 3 Mitarbeiter drastische Strafen verhängt, das heißt Prämienentzug für 2 bis 4 Monate. Ein Mitarbeiter wurde sogar für einen Monat in eine niedrigere Lohngruppe versetzt und zu Strafarbeit gezwungen. Reichel stellt die Vermutung an, daß hierfür “nicht allein der Erziehungswille besonders beflissener SED-Genossen ausschlaggebend gewesen”18 sei. Er ist der Auffassung, daß in gleichem Maße die Kollegen die Bestrafung bewirkten.19 Sicher ist es richtig, wenn er feststellt, daß die gesamte Brigade “Lohn- bzw. Prämieneinbußen befürchten”20 mußte. Allerdings steht die Haltung des Brigadeleiters der Behauptung Reichels gegenüber, daß bei solchen Vergehen “die Freundschaft aufhörte”21.

Im Gegensatz zu dieser Brigade stellt Reichel die Jugendbrigade “Willy Becker” vor, die dem Ideal einer sozialistischen Brigade nahe kam. Sie war nach Reichels Ausführung die “zunächst einzige”22 Brigade des SWB, was darauf schließen läßt, daß ihr weitere folgten. Reichel gibt an, daß die Brigade wegen ihrer “gesellschaftlichen” Arbeit auffiel. Sie arbeitete 192 Stunden im “Nationalen Aufbauwerk”, half beim Rübenziehen und bei der Heuernte. Reichel behauptet, diese Arbeit sei freiwillig geleistet.23 Er begründet dies damit, daß die Hilfe bei der Ernte für die Arbeiter selbstverständlich gewesen sei, weil sie diese in ihrem eigenen Dorf tätigten.24 Wie Reichel richtig bemerkt, würde das voraussetzen, daß gegenseitige Hilfe in diesem Dorf üblich war.25 Dies kann durchaus zutreffend sein, doch darf meines Erachtens nicht die Beeinflussung durch die brigadeinterne Parteigruppe und der indirekte Leistungsdruck durch die Brigadebewegung übersehen werden. In diesem Kontext muß auch die Initiative beim Zeltlager für die Patenklasse verstanden werden. Daher halte ich die Einschätzung Reichels für übereilt, wenn er sagt, das Engagement sei “glaubhaft”26 und die Brigade sei “teilweise bereit”27 gewesen, “”sozialistisch” zu arbeiten und zu leben”28. Interessanterweise gibt Reichel selbst einen Hinweis für die nicht freiwillig geleisteten NAW-Stunden: Bei Teilnahme hatten die Arbeiter beispielsweise Aussicht auf eine bessere Wohnung. Dieses Faktum läßt er bei seiner Einschätzung außer Acht.

Im nächsten Abschnitt bemerkt Reichel, daß sich durchaus Brigaden, darunter vor allem Jugendbrigaden, finden lassen, die sich “tatsächlich engagierten”29. Auch hier liegt, wie Reichel vermutet30, die Initiative der übergeordneten Organisation nahe, bei den Jugendbrigaden war dies die FDJ. Reichel läßt diesen Umstand unberücksichtigt und verweist auf Notwendigkeit von Untersuchungen auf diesem Feld31. Er führt lediglich weiter aus, daß die Leistungssteigerungen in diesen Brigaden zu einem gestörten Verhältnis zu den übrigen Brigaden zur Folge haben konnten. Solch engagierten Brigaden galten bei anderen als “Normbrecher”32. Reichel zieht dabei den Vergleich zur “Aktivistenbewegung” Ende der 1940er Jahre. Damals seien Arbeiter wie Adolf Hennecke33 nicht gut angesehen gewesen. Dem ist zuzustimmen. Ob Reichel Adolf Hennecke als Rekord-Arbeiter allerdings zu Recht nennt, oder ob Äußerungen der Presse wahr sind, daß die Angaben über Henneckes erbrachte Leistungen zu DDR-Zeiten “frisiert” wurden, wäre zu prüfen.

Im folgenden Abschnitt gibt Reichel an, daß die SED-Betriebsorganisation nach 1950 aktiv am Wettbewerb mitwirkte. Ihr Ziel war die Beseitigung von “'noch vorhandenen Mängel[n]'”34. Reichel geht nicht explizit auf die Art der Mängel ein. Es folgen Angaben, wie die Partei ihr Ziel erreichen will. Beispielsweise sollten neue Mitglieder für die SED geworben werden.

Reichel schildert anhand eines Beispiels, daß die Arbeiter einer sich am Wettbewerb beteiligenden Brigade Arbeitsvorteile herausschlagen konnten. So erhielt eine Spinnerei auf ihren Wunsch hin bessere Spindelschnuren. Dadurch konnten die Arbeiter die Produktion steigern und erhielten mehr Lohn.

Solche Bevorzugungen führten allerdings bald zur Forderung, alle Brigaden gleich zu behandeln, ansonsten sei der BdsA-Wettbewerb abzubrechen.

Neben der Aussicht auf verbesserte Arbeitsbedingungen waren nach Reichels Auffassung auch hohe Prämien Ansporn zur Teilnahme am Wettbewerb. Reichel gibt an, daß Ende 1959 die Auszeichnung “Brigade der sozialistischen Arbeit” zur staatlichen erklärt, und die Prämie auf ungefähr 500 Mark festgelegt wurde. Da die Höhe einer solchen Prämie einem Monatseinkommen entsprach, ist Reichels Annahme sehr wahrscheinlich zutreffend. Reichel schildert weiter, daß schon in den 1960er Jahren die Prämien gekürzt wurden und gemessen an der starken Beteiligung nur wenige Brigaden ausgezeichnet wurden. Reichel untermauert seine Aussage mit genauen Zahlen: Am 7.10.1959 wurden 103 Brigaden ausgezeichnet von insgesamt “knapp”35 60000 Kollektiven. Dies hatte einen Beteiligungsrückgang zur Folge.

Reichel geht im nächsten Abschnitt auf das Angebot zur Weiterbildung ein. Arbeiter sollten die Möglichkeit erhalten, sich zu qualifizieren . Wie Reichel richtig folgert, bestand damit die Aussicht, “in höhere Lohngruppen aufsteigen sowie interessantere und körperlich weniger schwere Tätigkeiten ausüben zu können.”36 Reichel vermutet, daß es dennoch eine zahlenmäßige Kluft gab zwischen Interessierten und denen, die das Angebot tatsächlich wahrnahmen. Er führt an dieser Stelle die Aussage eines Mitarbeiters der Betriebsakademie des SWB an, die 1959 in der Betriebszeitung erschien. Danach soll “ein Großteil der Kollegen 'keine Lust mehr zum Studieren'”37 gehabt haben. Da Reichel diese Aussage weder in eine kurze Inhaltsangabe des Artikels bettet noch den Anlaß benennt, bleibt offen, welcher Wert dem Zitat hierbei zukommt.

Im weiteren thematisiert Reichel “von FDGB- und SED-Funktonären als 'Ãœberspitzungen' bezeichnete Erscheinungen”38. Sie warnten davor, Frauen, Alte oder Trinker aus den Brigaden auszuschließen und junge Männer bei der Einstellung zu bevorzugen. Ebenfalls abgeraten wurde von Verpflichtungen, ausschließlich im Kollektiv ins Theater zu gehen oder sich in die Privatsphäre der Mitarbeiter zu mischen. Dennoch bestanden Unsicherheiten seitens der Arbeiterschaft, wie weit die BdsA-Kampagne ihr Privatleben tangieren dürfe. Beispielsweise wurde gefragt, ob Arbeiter “'sich sozialistisch trauen […] und ihre Kinder die sozialistische Jugendweihe haben' müßten”39.

Schließlich faßt Reichel die Reaktionen der Arbeiter auf die BdsA-Kampagne zusammen und stellt fest, daß diese “recht unterschiedlich”40 waren. Die Bandbreite reiche von striktem Befolgen aller Weisungen, über eingeschränkte Beteiligung, zum Beispiel bei möglichen persönlichen Vorteilen, bis hin zur Ablehnung aufgrund der ideologischen Vereinnahmung des Individuums.


Größtenteils ist das Kapitel inhaltlich schlüssig. Einige Behauptungen sind angreifbar, zu nennen wären die Thesen zur Freiwilligkeit der NAW-Stunden oder zur Unwilligkeit des Arbeiters bezüglich einer Weiterbildung. Abgesehen von der mangelhaften Angabe zur Quelle des Artikels in der Brigadezeitung sind die Anmerkungen des Autors hervorragend. Sie reichen von der einfachen Quellenangabe über vertiefende und erhellende Angaben bis hin zu Vermutungen und Anregungen für zukünftige Untersuchungsfelder. Diesbezüglich ist die Frage über die Bedeutung der FDJ bei der Beteiligung von Jugendbrigaden am Wettbewerb zu nennen. Der Autor verwendet zahlreiche Primärquellen, das heißt unter anderem Materialien der SED, FDJ, des FDGB und Betriebszeitungen – “Roter Stahl”. Die Art der Quellen umfaßt unter anderem Protokolle, Informationsberichte und Kommentare einzelner Personen. An Sekundärliteratur über die DDR ist auf Publikationen der letzten 10 Jahre zurückgegriffen worden, so daß auf einen aktuellen Forschungsstand und eine Wertung ohne Einfluß des Kalten Krieges geschlossen werden kann.

Die Sprache ist einfach und verständlich. Eigennamen wie beispielsweise “Stahl- und Walzwerk Brandenburg” oder “Nationales Aufbauwerk” werden bei erstmaliger Verwendung ausgeschrieben und im weiteren Verlauf mit ihrer offiziellen Abkürzung genannt. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß sich im Anhang des Bandes “Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur: Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR”, in dem der Artikel erschienen ist, ein Abkürzungsverzeichnis (Seite 349-352) befindet. Der Bau der Sätze ermöglicht flüssiges Lesen und wird durch Einflechtung von Zitaten glaubhaft und lebendig. Auch die Strukturierung der Ausführungen ist logisch und unterstützt das Verständnis des Gesagten.

Insgesamt ist die Lektüre sehr zu empfehlen.

 

WEITERE LITERATUR ZUM THEMA

  1. Gibas, Monika, “Die DDR – das sozialistische Vaterland der Werktätigen!” Anmerkungen zur Identitätspolitik der SED und ihrem sozialistischen Erbe, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 39-40/ 99, S 21-30.

  2. Roesler, Jörg, Probleme des Brigadealltags. Arbeitsverhältnisse und Arbeitsklima in volkseigenen Betrieben 1950-1989, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 38/ 97, S. 3-17.

  3. Roesler, Jörg, Jugendbrigaden im Fabrikalltag der DDR 1948-1989 in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 28/ 99, S. 21-31.

     

 

Fußnoten:

1 S. 57.
2 S. 57.
3 S. 57.
4 S. 57.
5 S. 57.
6 S. 57.
7 S. 57.
8 S. 57.
9 S. 56.
10 S. 56.
 

11 S. 57.
12 S. 57.
13 S. 58.
14 S. 59.
15 S. 60.
16 S. 60.
17 S. 60.
18 S. 60.
19 S. 60.
20 S. 45.

31 S. 64.
32 S. 65.
33 S. 68.
34 S. 55.
35 S. 55.
36 S. 55.
37 S. 56.
38 S. 56.
39 S. 56.
40 S. 56
.

21 S. 46.
22 S. 47.
23 S. 47.
24 S. 48.
25 S. 52.
26 S. 55.
27 S. 55.
28 S. 60.
29 S. 62.
30 S. 63.